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Entnazifizierung
Morsumer mit Hakenkreuz

Hamburg,

"Ich hasse Hitler - jetzt. Als Kind stand ich ihm als Person und Politiker eher gleichgültig gegenüber. Die Auswirkungen seiner ersten Regierungsjahre auf mein Leben in Morsum und die Veränderungen im Dorf habe ich damals jedoch zunächst positiv wahrgenommen. Das lag sicherlich an meinem jugendlichen Alter und an der Abgeschiedenheit meines Lebens." Emma Scholz 2002, aufgewachsen in Morsum.

"Ich bin aus Idealismus in die Partei eingetreten und erhoffte von ihr die Lösung der Wirtschaftskrise in Deutschland, insbesondere die Sicherung des Bauernstandes und die Brechung der Macht des Kapitals."
Andreas Lauritzen, Bauer in Morsum, 5.6.1947 Landesarchiv

Harald Voigt schreibt dazu (S.49), "dass die wirtschaftliche Situation der Insel Sylt [1927 - 1933] auf allen Gebieten und für alle Bevölkerungskreise katastrophal war. Damit war die Endphase der Weimarer Republik - wie der Soziologe Rudolf Heberle feststellte - `nicht nur eine wesentliche Bedingung für das Entstehen, sondern auch für den Erfolg der nationalsozialistischen Bewegung` gegeben."

In Morsum gibt es 1932 ähnlich wie in anderen Sylter Orten 3 NSDAP-Veranstaltungen zur Wählerwerbung. Zusätzlich gibt es "Deutsche Abende". "Sie bestanden aus einem parteipolitischen Teil, der von deutschtümelnder Unterhaltung umrahmt war.`" Voigt, 59.

Alle illustrierenden Fotos aus Morsum:

Die erste Ortsgruppe der NSDAP auf Sylt wird am 3. Oktober 1930 in Westerland gegründet. Am Ende der Saison haben die Sympathisanten, darunter viele Pensionsinhaber, Kaufleute sowie Inhaber oder Mitarbeiter der Gastronomie dafür die Zeit dafür gefunden Voigt, 66. Ende 1930 hatte die Ortsgruppe etwa 60 Mitglieder Voigt, 68. Erst Anfang 1932 gelingt der entscheidende Durchbruch, der Eintritt von 73 neuen Mitgliedern. Zu diesem Zeitpunkt werden Morsum, Archsum und List als Stützpunkte in die weitere Parteiarbeit eingeschaltet Voigt, 68.



























Hitlers Popularität ist in u.a. in den Versailler Verträgen begründet, die Deutschland nach dem 1. Weltkrieg territoral und finanziell stark einschränken. Inflation und Arbeitslosigkeit als Kriegsfolge werden von vielen Deutschen als nationale Schmach empfunden. Auf diese Stimmung setzen die Nationalsozialisten. Sie stellen dem eine Ideologie des Überlegenheitsgefühls entgegen. Der Glaube an den Nationalsozialismus und an den Führer als "Erlöser" sollen zur Ersatzreligion werden. Nachdenken ist nicht erwünscht. Die These von zu vielen Menschen in zu wenig Land ist eine Basis für den Zweiten Weltkrieg. Das damals zu durchschauen, war nicht einfach. Wie hätten wir damals gehandelt?
















"Einen entscheidenden Platz in der NS-Ideologie nahm die Èrfassung der Jugend ein. Schneller Aufstieg, Abenteuer, pseudomilitärisches Gepränge und die Anknüpfung an die Tradition der Jugendbewegung waren die Faktoren." Voigt, 79.









Wahlkampf
Wahlkampf in Morsum o.J. Der Radfahrer rechts mit Hitlergruß.




Ergebnis der Reichstagswahl vom 5. März 1933 in Morsum auf Sylt
Die Reichstagswahl vom 5. März findet nur gut einen Monat nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler statt. Reichspräsident Paul von Hindenburg, Namensgeber für den Sylter Eisenbahndamm, ernennt ihn am 30. Januar 1933. Die
Reichstagswahl am 5. März ist die 8. und letzte halbwegs freie Wahl, zu der mehr als eine Partei antritt.

In Morsum wird im Gasthof Sylter Hof bis 16 Uhr gewählt. Die Sylter Zeitung berichtet über die Ergebnisse:

NSDAP 223 Stimmen
SPD 21 Stimmen
Kommunistische Partei 16 Stimmen
Deutsche Zentrumspartei 0 Stimmen
Kampffront Schwarz-Weiß-Rot 9 Stimmen
Deutsche Volkspartei 2 Stimmen
Christlich-Sozialer Volksdienst 2 Stimmen
Deutsche Staatspartei 1 Stimme
Deutsche Bauernpartei 0 Stimmen
Sozialistische Kampfgemeinschaft 0 Stimmen

Von den 274 in Morsum abgegebenen Stimmen haben sich somit 81,4 % für die NSDAP entschieden. Im gesamten Reichsgebiet erhält die NSDAP 43,9%.

Hier der NSDAP-Stimmenanteil der anderen Sylter Inselgemeinden:
Archsum 86,3% (73 abgegebene Stimmen)
Keitum 68,7%
Tinnum 59,2%
Westerland 47%
Wennigstedt 72,2%
Kampen 58,5%
List 75,1%
Rantum 45,4%
Insgesamt werden auf Sylt 3589 Stimmen abgegeben.

Bei den einen Sonntag später stattfindenden Kommunal- und Regionalwahlen (12.3.1933) werden auf der Liste der NSDAP zwei Sylter, der Schriftleiter Paul Meyer, Westerland, und Landmann Peter Matzen, Archsum, in den Kreistag des Kreises Südtondern gewählt. Für die SPD zieht der Westerländer Ökonom Andreas Nielsen in den Kreistag. Der Bürgermeister Arno Kapp, Westerland, gelangt auf der Liste Kampffront Schwarz-Weiß-Rot in das Regionalparlament.

Bei der Wahl zum Provinziallandtag stimmen 83,5% der Morsumer WählerInnen für die NSDAP.

Auf Gemeindeebene stehen am 12. März 1933 auf Sylt häufig keine Parteien zur Wahl, sondern Listen, die betonen sollen, dass in so kleinen Gemeinwesen jeder jeden kennt und die Persönlichkeit der Kandidaten wichtiger ist als seine Parteizugehörigkeit, wenn es denn eine gibt. "Nur in Westerland, Keitum und List fand die NSDAP Mitglieder, die die bereit waren, sich unter parteipolitischer Firmierung den Wählern zu stellen. In allen übrigen Gemeinden der der Insel mussten sich die Nationalsozialisten bemühen, ihre Kandidaten - mehr oder minder versteckt - in scheinbar parteipolitisch neutralen Listenverbindungen unterzubringen, um auf diesem Umweg den Einstieg in die Gemeindevertretungen zu schaffen." Voigt, 85 In Morsum gehört dazu die Liste Lorentzen.


Das Wahlergebnis der Gemeindewahl in Morsum am 12. März 1933:
Wahlvorschlag "Lorentzen" 209 Stimmen = 8 Sitze
Kommunistische Partei 42 Stimmen = 1 Sitz

Gewählt wurden auf der Liste Lorentzen
Karl Lorentzen
Andreas Lauritzen, seit 1.3.1933 NSDAP-Mitglied, Mitgliedschaft der anderen Gemeidevertreter nicht ermittelt.
Thomas Petersen
Peter Bremer
Erasmus Matzen
Lorenz Jens Petersen
Detlef Schröder
Bernhard Thießen
Cornelius Hansen

Für die Kommunistische Partei Deutschlands:
Ernst Hinz

Hierzu schreibt die Sylter Zeitung: "Morsum, den 12. März. In den Gemeindewahlen haben wir eine Überraschung erlebt. Es ist im Grunde doch recht traurig um unser Deutschtum bestellt, wenn in solchen Gemeinden in denen man sich freute über eine Einheitsliste zu den Wahlen, nun zuletzt doch eine solche Uneinigkeit zutage kommt, die lieber wesensfremden Kommunisten ihre Stimme gibt, als altbekannten und bewährten Dorfbewohnern. Dank dieser Uneinigkeit ist in unserer Gemeindevertretung zum ersten Male ein Kommunist gewählt."

Der kurze Kommentar vom 12. März zum Wahlausgang in Morsum ist nicht namentlich gekennzeichnet. Autor könnte Andreas Lauritzen sein. Der Autor spricht von "unserer Gemeindevertretung", müsste also Morsumer sein. Andreas Lauritzen hat nach eigenen Angaben seit 1925 für die Sylter Zeitung Artikel verfasst.

"Selbst als die KPD schon längst von der politischen Bühne abgedrängt war und am 12. November 1933 die Reihe der NS-Plebiszite eröffnet wurde, appellierte ein Zeitungsartikel an die Morsumer, `die Schmach der 42 Stimmen für den Kommunistenhäuptling durch die 100 Prozent Ja für den Führer`zu tilgen."Das Ergebnis des Plebiszits in Morsum: 301 Stimmen für die NSDAP, 32 Ungültige. Voigt, 88, 154.




Morsum unter dem Hakenkreuz
Morsum, ca. 1933/34. In der linken Reihe sitzen von vorn Peter Matzen, Heinje Thevagt, ?, Detlef Schmidt, Bäcker Ladend und Karl Fink, an der Stirnseite des Tisches Erich Cornehl. Die rechte Seite ist besetzt (vorn beginnend) mit Andreas Hansen, Otto Lorenzen, Andreas Lauritzen, Peter Matzen, Cornelius Hansen, Karl Kruse, Reichsarbeitsdienstführer Ohrt, Magge Petersen, Jenner Simonsen und Karl Fink. Scholz, S. 289



AndreasLauritzenBahnhof
Morsum, ca. 1933. Andreas Lauritzen (r.) begrüßt Parteigenossen auf dem Morsumer Bahnhof.

Die Entwicklung nach dem Untergang des 3. Reichs
Als die Engländer 1945 die Insel Sylt besetzen, verbrennt Andreas Lauritzen hektisch seine NS-Uniformen und Unterlagen. Andere Sylter möglicherweise auch.

Die Amerikaner legen nach Kriegsende zunächst folgende Bestimmungen für die Entnazifizierung fest:
"Alle Mitglieder der Nazipartei, die nicht nur nominell in der Partei tätig waren, alle, die den Nazismus oder Militarismus aktiv unterstützt haben, und alle anderen Personen, die den alliierten Zielen feindlich gegenüberstehen, sollen entfernt und ausgeschlossen werden aus öffentlichen Ämtern und aus wichtigen Stellungen in halbamtlichen und privaten Unternehmungen... Als Personen, die nicht nur nominell in der Partei tätig waren und die den Nazismus oder Militarismus aktiv unterstützt haben, sind diejenigen zu behandeln, die (1) ein Amt innehatten oder anderweitig auf irgendeiner Stufe von der örtlichen bis zu den Reichsstellen der Partei und ihren Gliederungen aktiv gewesen sind oder in Organisationen, die militaristische Lehren unterstützen, (2) irgendwelche Naziverbrechen, rassische Verfolgungen oder Diskriminierungen veranlasst oder an ihnen teilgenommen haben, (3) sich als Anhänger des Nazismus oder rassischer und militaristischer Überzeugungen bekannt haben, oder (4) der Nazipartei oder Nazifunktionären oder Naziführern freiwillig beträchtliche moralische oder materielle Hilfe oder politische Unterstützung irgendwelcher Art geleistet haben."(Direktive an den Oberbefehlshaber der US-Besatzungstruppen in Deutschland(JCS 1067), April 1945). Taylor, S. 325f.

"Um die Schuldigen herauszufinden, solllte jeder Deutsche einen Fragebogen ausfüllen, in dem er eine Vielzahl von Fragen über sein Leben, seine politische Zugehörigkeit und Tätigkeit wahrheitsgemäß zu beantworten hatte." Taylor S. 326

"Es gab fünf Stufen: V. Entlastete, IV. Mitläufer, III. Minderbelastete, II. Belastete, I. Hauptschuldige." Taylor S. 333

In der britischen Besatzungszone, in der auch Sylt lag, ging man ähnlich vor wie in der amerikanischen. Allerdings mussten nur diejenigen einen Fragebogen ausfüllen, die "im öffentlichen Dienst und in Staatsunternehmen beschäftigt waren oder Beschäftigung suchten." (Taylor S. 379f.) "Als Ergebnis verloren rund 200 000 Nationalsozialisten entweder ihre Stellung oder wurden nicht eingestellt." (Taylor, S. 389) "Zahllose glühende Nationalsozialisten begriffen, dass sie am wenigsten auffielen, wenn sie irgendwo als Büroangestellte arbeiteten und abwarteten, bis sich die Aufregung legte." Taylor, S. 388


Der Morsumer Lehrer Karl Kruse (*25.5.1890 +26.3.1966) wird im September 1945 von den englischen Besatzungstruppen verhaftet und ein Dreivierteljahr in Neuengamme/Hamburg interniert, einem ehemaligen KZ. Scholz, S. 280 ff Die Internierung ist neben Verdachtsmomenten wohl auch seiner Funktion im Öffentlichen Dienst zuzuschreiben, denn in der britischen Besatzungszone mussten nur diejenigen einen Fragebogen ausfüllen, die "im öffentlichen Dienst und in Staatsunternehmen beschäftigt waren oder Beschäftigung suchten." Taylor S. 379 f.

"Die Internierungslager, in denen viele von ihnen bis zur Bearbeitung ihrer Fälle einsaßen, waren wahrhaft grauenhafte Orte. Sie waren häufig überfüllt und unhygienisch, und die Verpflegungsrationen der Insassen sank auf 900 Kalorien am Tag." Taylor, S. 381

Karl Kruse kann nach seiner Entnazifizierung die Arbeit als Lehrer und Schulleiter der Morsumer Volksschule wieder aufnehmen. Scholz, S. 280 ff

Der Landwirt Andreas Lauritzen tritt am 1.3.1933 in die NSDAP ein (NSDAP-Gaukarte), ein Monat nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und wenige Tage vor der letzten Reichstagswahl mit großen Stimmengewinnen der Nationalsozialisten. Als Motiv nennt er in einer Einlassung an den Deutschen Entnazifizierungsausschuss in Niebüll: "Ich bin aus Idealismus in die Partei eingetreten und erhoffte von ihr die Lösung der Wirtschaftskrise in Deutschland, insbesondere die Sicherung des Bauernstandes und die Brechung der Macht des Kapitals."(Alle Zitate Landesarchiv, wenn nicht anders angegeben) In der Partei bekleidet er bis 1934 auch die Funktion des örtlichen Propagandaleiters. Nach Lauritzens Darstellung führt er diese Funktion nur dem Namen nach aus. Er habe mehrfach an den Ortsgruppenleiter den Antrag auf Entbindung von dem Amt gestellt.Er sei nie in irgendeiner Weise als Propagandaleiter in Erscheinung getreten. Als höchste Position in der NSDAP gibt er die Position des Amtsleiters an.

Als Ortsbauernführer ist Andreas Lauritzen seit 1933 tätig, seit 1940 als Bezirksbauernführer und seit 1943 auch als Kreisbeauftragter für Berufserziehung Nachwuchsgewinnung in der Kreisbauernschaft Südtondern, wo er zusammen mit der Landwirtschaftsschule und der Mädchenabteilung in den Bezirksbauernschaften die Werbung für die männlichen und weiblichen landwirtschaftlichen Berufe durchgeführt, auch auf Bauernabenden. Alles erfolgte lt. Andreas Lauritzen im Auftrag der Kreisbauernschaft. Ziel war die "Ernährungssicherung".

Außerdem ist Andreas Lauritzen nach Aktenlage des Entnazifizierungsausschussses von Mai 1933 bis 1935 Mitglied in der SA. Im Reichsbund Deutscher Beamter ist er Mitglied von 1938 - 1945, im Reichsluftschutzbund 1942 - 1945. Auch im Volksbund für das Deutschtum im Ausland (VDA) besteht eine Mitgliedschaft bis 1945.

Von 1935 bis 1945 ist Andreas Lauritzen einfaches Mitglied im NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt). "Zwar gelang der NSV trotz des Verbotes der Arbeiterwohlfahrt nicht die Monopolisierung der gesamten freien Wohlfahrt, jedoch wurden ursprünglich führende Verbände wie das Deutsche Rote Kreuz (DRK), die evangelische Diakonie oder die katholischeCaritas zurückgedrängt. Die Struktur der NSV glich dem Aufbau der NSDAP mit Orts-, Kreis- und Gruppenverwaltungen." Wikipedia 2015

Von 1938 bis 1945 ist Andreas Lauritzen auch einfaches Mitglied im Reichsbund Deutsche Familie sowie von 1934 bis 1937 im NS-Reichsbund für Leibesübungen.
Seit dem 20.3.1944 bis zur Kapitulation beschäftigt Andreas Lauritzen auf seinem Hof einen russischen Zivilarbeiter mit dessen Tochter. "Beschwerden über die Behandlung sind nicht gewesen. Im Gegenteil, sie haben sich bei mir sehr wohl gefühlt und der Mann ist, nachdem sie bereits im Sammellager waren, zu Fuß von Tinnum (7km) auf meinen Betrieb gekommen und hat bei mir gearbeitet. Er brachte auch noch leere Konservendosen für meine Frau und Cigaretten für mich mit." Landesarchiv. - Über die Bezahlung, Lebens- und Arbeitsbedingungen der beiden ist nichts weiteres überliefert.

In einem Brief aus dem Jahre 1976 schreibt Andreas Lauritzen:"Mein Russe, den ich von 1943 -45 hatte, hielt nichts von den Kommunisten, die ihm seinen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb genommen und in eine Kolchose überführt hatten. Er sagte immer: Stalin nicht gut, Hitler nicht gut, Hindenburg gut. Er war schon im 1. Weltkrieg Soldat geworden und und in deutscher Gefangenschaft gewesen. So radebrechte er noch etwas deutsch."

Wikipedia: "Zivilarbeiter waren nach nationalsozialistischem Sprachgebrauch junge männliche und weibliche Arbeitskräfte, häufig noch Jugendliche, aus den von deutschen Truppen während des Zweiten Weltkriegs besetzten Ländern, die in ihrer Heimat weitgehend unter Druck oder falschen Versprechungen angeworben wurden und in Deutschland rechtlos und überwiegend unter menschenunwürdigen Bedingungen als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden, um die deutsche Kriegswirtschaft aufrechtzuerhalten."

Vor 1933 ist Andreas Lauritzen Mitglied der Deutschen Volkspartei, einer nationalliberalen Partei der Weimarer Republik. Ihr gehört auch der Außenminister Gustav Stresemann an. Landesarchiv, Wikipedia 2015

1. Entnazifizierungsentscheidung
Das German Denazification Panel in Niebüll kategorisiert Andreas Lauritzen daraufhin ohne persönliche Befragung am 30.7.1947 in die Stufe III, Minderbelastete. Damit ist der "Ausschluss von allen öffentlichen und privaten Stellungen leitenden oder aufsichtsführenden Charakters oder von einer Tätigkeit , welche die Anstellung von Personal in einem öffentlichen oder Geschäftsunternehmen mit sich bringt", verbunden. "Eine Entfernung aus seiner Stellung als Landwirt auf Grund der bestehenden Bestimmungen nicht möglich."

In einem Schreiben vom 10. August 1947 an den Entnazifizierungsausschuss in Niebüll wird Andreas Lauritzen von einer Tinnumerin vorgeworfen, er habe sich in seiner Eigenschaft als Bezirksbauernführer gegen eine Befreiung ihres Ehemanns, eines Bauern, vom Wehrdienst ausgesprochen. Andere Bauern habe er dagegen vor der Einberufung bewahrt. Sie führt das darauf zurück, dass ihr Mann nicht in die Partei eingetreten ist und gegen den Nationalsozialismus eingestellt war. Lauritzen selbst sei wegen seiner Funktion als Kreisbauernführer nicht eingezogen worden. Weiter wird behauptet, Lauritzen wolle mit Gesinnungsgenossen eine Deckstation mit Hengsten einrichten, die die Tinnumerin finanziell sehr schädigen würde. Sie betreibt bisher die einzige Deckstation der Insel. Ihr Vorwurf: Lauritzen will sein Geld vor einer Währungsreform "schnell noch in wertvollen Zuchttieren anlegen". Landesarchiv

2. Entnazifizierungsentscheidung
Am 20.12.1947 bestätigt der Entnazifizierungsausschuss seine Einstufung in die Stufe III. "Seinen (Lauritzens) Angaben, daß er sich als Propagandaleiter nicht betätigt hat, kann nicht geglaubt werden. Seine Presseberichte für die "Sylter Nachrichten" können nicht mehr nachgeprüft werden, aber es ist anzunehmen, daß sie nazistisch gefärbt waren"..."Der Prüfungsausschuß legt Wert darauf, daß dem L. eine Hengsthaltung nicht gestattet wird". Der Vorwurf, Andreas Lauritzen habe " seinen Landbesitz in Morsum bei der Landumlegung 1936 - 1938 erheblich verbessert", wird auf der Basis von 2 Zeugenausagen nicht bestätigt und als "üble Nachrede" zurückgewiesen. Landesarchiv.

3. Entnazifizierungsentscheidung
Gegen die Entscheidung des Entnazifizierungsausschusses, von der Andreas Lauritzen durch Dritte schon im Oktober 1947 hört , erhebt er unverzüglich Einspruch, da er "politisch nicht tätig gewesen" sei. Die Entscheidung vom 20.8.1948 stuft ihn in die günstigere Kategorie IV ein. Er muss die Kosten des Verfahrens in Höhe von 500 Mark sowie einen Beitrag von 500 Mark zugunsten des Wiederaufbaufonds leisten. Begründung:"Zugehörigkeit zur NSDAP von 1933, zur SA von 1933 - 35, insbesondere aber seine Betätigung als Propagandaleiter beweisen, dass er sich inhaltlich hinter die Ziele der NSDAP stellte. Auch als Bezirksbauernführer u. Kreisbeauftragter für die Berufserziehung hat L. der Partei positiven Beistand geleistet. Unter Anlegung eines milderen Maßstabes musste zumindest als Mitläufer erkannt werden." Landesarchiv

4. Entnazifizierungsentscheidung
Am 16. Mai 1949 entscheidet der Entnazifizierungs-Hauptausschuss in Niebüll in öfffentlicher Sitzung, dass Andreas Lauritzen, Morsum, in die Kategorie V (Entlastete) umgruppiert wird. Er hat nunmehr lediglich noch 50 DM Verfahrenskosten und 50 DM Beitrag zum Wiederaufbaufonds zu zahlen.

Der Betroffene erklärt zuvor: Als Propagandaamtsleiter habe ich kein Wort auf den Versammlungen gesprochen. Schon seit 1925 habe ich für die "Sylter Nachrichen" geschrieben. Es kann mir niemand nachsagen, dass ich nicht in jeder Sache tolerant war."
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Der Entnazifizierungsausschuss begründet seine Entscheidung wie folgt: "Als Propagandaleiter sei er überhaupt niemals hervorgetreten, an Versammlungen habe er kein Wort gesprochen. Auch sonst habe er sich in keiner Weise für die Ziele des Nationalsozialismus aktiv eingesetzt. Die Funktion des Bezirksbauernführers und des Kreisamtsleiters für die Berufserziehung habe er lediglich während des Krieges einige Zeit übernehmen müssen, weil die mit dieser Aufgabe Betrauten zur Wehrmacht einberufen wurden." Die folgende juristische Bewertung lautet wie folgt:"Der Ausschuss kam zu der Überzeugung, dass die von dem Betroffenen vorgebrachten Argumente keine hinreichende Entlastung im Sinne des §6 des Gesetzes vom 10.2.48 darstellen, und stufte den Betroffenen gemäß §5 des Gesetzes vom 10.2.48 in die Kategorie IV ein. Da Sanktionen im Sinne des §12 vorliegen, wurde seine Umstufung in die Kat. V nach Rechtskraft dieser Entscheidung beschlossen." Damit ist Andreas Lauritzens Weste wieder weiß.

In den 1960er Jahren arbeitet er als Führungskraft in der Meiereigenossenschaft Tinnum und ist letzter ehrenamtlicher Bürgermeister der Gemeinde Morsum. Auch als ehrenamtlicher Richter am Landessozialgericht in Schleswig ist er tätig.


Emma Scholz geb. Kruse, *1924
Meine Hitler- und Nachkriegszeit in Morsum -
Erlebnisse und Erfahrungen
protokolliert von Ekkehard Lauritzen 2002

Ich hasse Hitler - jetzt. Als Kind stand ich ihm als Person und Politiker eher gleichgültig gegenüber. Die Auswirkungen seiner ersten Regierungsjahre auf mein Leben in Morsum und die Veränderungen im Dorf habe ich damals jedoch zunächst positiv wahrgenommen. Das lag sicherlich an meinem jugendlichen Alter und an der Abgeschiedenheit meines Lebens, die eine Relativierung meiner Erfahrungen anders als vielleicht in Städten sehr erschwerte.

Lehrer Kruse streicht den Religionsunterricht vom Stundenplan

Zwischen Pastor Dr. Glöckner, dem Nachfolger von Pastor Johler, und der Morsumer Gemeinde gab es Spannungen. Sie beruhten u.a. auf einer gewissen Bildungsarroganz des Pastors. Er fühlte sich gegenüber den Dorfbewohnern intellektuell überlegen und zeigte das auch. Das gehörte sich nicht. Dazu trug aber auch z.B. die Weigerung bei, bestimmte Verstorbene nicht zu beerdigen, weil deren politische Einstellungen ihm nicht mit dem Christentum in Einklang zu stehen schienen.

Auch gegenüber seinem Organisten, meinem Vater, dem Dorflehrer Kruse, gab es Auffassungsunterschiede, die darin gipfelten, dass Dr. Glöckner in einer Predigt behauptete, Organist Kruse sei ein Deutschgläubiger und Heide. Kruse stand daraufhin während des Gottesdienstes geräuschvoll auf und ging, trat später aus Protest sogar aus der Kirche aus. Ich empfand es als ungehörig, so etwas von der Kanzel zu verkünden anstatt das persönliche Gespräch mit meinem Vater zu suchen. Dafür wurde Dr. Glöckner dann auch dienstrechtlich belangt.

Hintergrund des Streits war die Streichung des Religionsunterrichts an der Morsumer Schule. Dazu war mein Vater allerdings im Dritten Reich gezwungen. Auch Kirchenälteste wandten sich deshalb von Lehrer Kruse ab und versuchten, durch Unterschriftenlisten seine Entlassung bzw. Versetzung zu erreichen. Vergeblich. Allerdings musste Pastor Glöckner gehen. Das Mobbing gegen meinen Vater entwickelte sich weiter. Einmal kam Pastor Wester, bekennende Kirche, mit einigen Theologiestudenten nach Morsum, um den Gottesdienst zu gestalten. Auf dem Weg vom Bahnhof zur Kirche kam die Gruppe am Sylter Hof vorbei. Dort stießen sie auf meinen Vater, der einen Grog trank. Der Wirt, mein Onkel, hatte meinem Vater einen ausgegeben. Auch meinen Vater zog es zum Gottesdienst, in dem er wie gewöhnlich mit seiner lauten Stimme mitsang. Nach dem Gottesdienst raunzte ihn ein aufgebrachter Student an, er werde meinen Vater sofort absetzen lassen und künftig selbst als Lehrer fungieren. Immerhin sei er besoffen in der Kirche gewesen. Das hat mich als Kind sehr aufgeregt. Ich stand natürlich auf der Seite meines Vaters und lief zu Peter Matzen genannt Peter Wall, dem Bürgermeister, und erzählte ihm alles. Der beruhigte mich und erklärte mir, dass der Student dazu gar keine Möglichkeit habe.

Ein Hemmnis für mein selbstständiges Urteilen war natürlich, dass ich als Kind zunächst hinter meinem Vater stand, wenn dieser angegriffen wurde, dafür dass er bestimmte Dinge in seiner Lehrerrolle einfach tun musste. Mit 15 trat ich wegen der Spannungen mit der Kirche auch aus der Kirche aus. Das wurde im Dorf mit Argwohn beobachtet. Auch meine Mutter als Morsumerin war damit nicht einverstanden. Das gehörte sich nicht. Sie war totunglücklich. - Nach dem Krieg rief mich meine Mutter einmal ins Wohnzimmer. Pastor Ingwers war auch da. Sie sagte mir, ich solle das mal unterschreiben. Ich tat es folgsam wie ich immer noch war, ohne es zu lesen und merkte danach, dass ich wieder in die Kirche eingetreten war. Ich fühlte mich überfahren, aber meine Mutter war glücklich. Also blieb ich in der Kirche.

Not und Armut
Als ich acht Jahre alt war, hatte wir oft Mittagsgäste, Arbeitslose vom Festland. Die hatten, wie ich später erfuhr, Zinken an unser Haus gemalt, die besagten, dass man bei uns essen könne. Sie kamen und fragten nach Mittag, sowie mein Vater mit der Schule fertig war. Diese Arbeitslosen mit ihren verhärmten Gesichtern hatten damals wirklich gar nichts. Ihr Schicksal hat mich stark berührt. Geschlafen haben sie oft bei Peter Matzen Wall in der Scheune, wo sich ebenfalls entsprechende Zinken am Haus befanden. Der hatte dabei immer ein wenig Angst - wegen der Feuergefahr. Auch viele Dorfbewohner hatten wenig Geld. Manchmal konnten Kinder nicht zum Kinderfest gehen, weil die Eltern für sie kein Kleid hatten. Uns ging es da etwas besser, obwohl Lehrer damals auch nicht viel verdienten.

Als ich neun Jahre alt war, wurde Hitler zum Reichskanzler gewählt. Ich bekam mit, wie meine Mutter sich mit einer Freundin darüber unterhielt und fragte sie, wie das Wahlergebnis einzuschätzen sei: "Mama, ist das gut oder schlecht?"" Das ist gut, nun gibt es keine Arbeitslosen mehr." Das leuchtete mir ein. Auch mein Vater war zufrieden und hoffnungsfroh. Er war zu der Zeit noch Idealist.

Der empfundene Aufbruch

Ich selbst erlebte eine Zeit der Freude. Es wurden verschiedene Gruppen gebildet. Die Männer machten was mit Motorrädern, man trieb zusammen Sport. Die Frauen aus Morsum trafen sich in der Schule. Dort standen zwei Nähmaschinen für den Handarbeitsunterricht. Es wurde damit alte Kleidung repariert, die man an Bedürftige weitergab.

Ich wurde später Gruppenleiterin für die Jungmädel und sollte Vorträge mithilfe von zugeschicktem Material halten, fühlte mich damit jedoch überfordert. Deshalb habe ich lieber Turnstunden gegeben. Das machte allen Spaß. Als ich noch nicht ganz zehn war, musste ich zunächst zu Anja Schnoor in die Kückengruppe. Da war ich natürlich der Leuchtturm [blondes Haar, langer Zopf] und wartete sehnsüchtig darauf, endlich mit zehn Jahren Jungmädel zu werden. Als es soweit war, war ich ganz stolz. Natürlich denkt man nicht an Hitler als Kind, sondern an die Gruppe, zu der man auch gehören wollte. Dieser Zusammenhalt, dieses dazu gehören war für mich als Kind ganz wichtig.


Annegret Schnoor (Foto), über die Emma Scholz schreibt, sie sei ihre Kükengruppenmutter gewesen, bevor sie mit 10 Jahren in die Jungmädelschaft durfte. Scholz, S. 154


Ich erinnere mich an ein Ereignis, als ich mit elf Jungmädel war. Es war gerade Staatsjugendtag. Das bedeutete schulfrei. Wer findet das als Schülerin nicht schön. Anja hatte für uns an dem Tag einen Ausflug nach Rantum geplant. Wir gingen zu Fuß dorthin, machten in den Dünen Feuer und kochten Reis mit Backpflaumen. Ein schönes Erlebnis. Wir sangen und aßen zusammen. Währenddessen kamen vier Frauen auf uns zu. Sie sahen uns in unserer Kluft (weiße Bluse, Halstuch usw.) und sagten, seien aus dem Saarland, das seit kurzem wieder zu Deutschland gehörte. Sie hätten eine Hitler-Freiplatzspende bekommen und freuten sich über alles. Die Freiplatzspende kannten wir. Mütter sollten sich erholen können. Dafür wurden andere Familien gesucht, bei denen sie ohne Bezahlung einige Zeit Urlaub machen konnten. Das musste man sozusagen freiwillig machen. Die Frauen gesellten sich zu uns, aßen ein wenig mit und als sie gingen, sangen wir Deutsch ist die Saar. Die Frauen waren glücklich, wir auch, die Gefühle bordeten über bei mir.

Damals hatte ich – nicht zuletzt wegen meines Alters – keine Möglichkeiten, aufgrund dieser beschränkten Wahrnehmung kritische Gedanken entwickeln. Das kam erst etwa zehn Jahre später. Als mir klar wurde, wie Hitler uns benutzt und missbraucht hat, bekam ich eine unbändige Wut auf ihn. Ich hatte ihn vorher auch nicht geliebt oder verehrt, sondern nur als Führer wahr- und hingenommen.

Wir mussten zum Beispiel im Dorf Altmetall sammeln. Alle hatten ein Gebiet, in dem sie mit dem Blockwagen von Haus zu Haus zogen. Wir sammelten, ohne zu wissen, dass es der Kriegsvorbereitung diente. Eine
andere Sammlung war die Pfund-Spende: ein Pfund Haferflocken und so weiter. Wir kamen uns damals wichtig vor, fühlten uns mitverantwortlich für das große Deutschland. Wir mussten auch ständig was verkaufen: Kerzenständer und anderes oder nur so Geld sammeln. Nur der Lehrer und der Pastor gaben 50 Pfennige.

Zum 1. Mai wurde Bescheid gesagt, dass wir uns bei Abeling in Archsum zu einem Umzug mit Pferd und Wagen versammeln. Jeder Wagen sollte etwas darstellen, zum Beispiel ein Handwerk. Toni und ich kriegten den Wagen von Henningsen geliehen. Wir haben ihn geputzt und geschmückt, soweit es bei den beschränkten Möglichkeiten ging. In Archsum bestiegen auch andere Jungmädel den Wagen. Es gab noch mehr kutschen, zum Beispiel vom BDM. Vorn zog die Musik. Wir Mädchen waren nicht etwa missmutig, sondern wir lachten und hatten Spaß. Es war eben etwas los. Wir zogen zunächst nach Wall, dann nach Osterende, Kleinmorsum bis zum Gasthaus Morsum Kliff. Hier hatte die Partei auch ihren Sitz, es war Parteilokal. Wirt war damals John Lorenzen. Im Saal warteten wir dann auf die Rede Hitlers aus dem Volksempfänger. Kunje Boysen hat den Sender richtig eingestellt, was bei den schlechten Empfangsmöglichkeiten nicht immer ganz leicht war. Der Saal war überfüllt. Paul Kayser, der Ortsgruppenleiter, und mein Vater grüßten mit Heil Hitler. Eine Ansprache wurde gehalten, auf Deutsch, nicht auf Friesisch. Ich habe die anschließende Hitlerrede nicht verfolgen können. Meine Gedanken sind einfach abgedriftet. So ging es mir auch mit Hitlers Buch Mein Kampf. Ich habe es wie so viele andere nie gelesen. Wir hatten auch zu Hause einen Volksempfänger. Die Radios wurden subventioniert, damit der Propagandafluss möglichst viele Menschen erreichte.


Die Morsumer BDM-Gruppe feiert 1933 den Tag der Arbeit. (BDM = Bund deutscher Mädchen). Freizeitangebote sind begrenzt. Reizvolle Veranstaltungen wie diese locken viele Mädchen an. Der Tag der Arbeit ist von den Nationalsozialisten ab 1933 zum gesetzlichen Feiertag erklärt worden. Für ehrenamtliche Parteimitarbeiter gibt es Uniformen und Orden. Sie vermitteln ihren Trägern das Gefühl, einen Beitrag zur Leistungsgesellschaft zu erbringen. Damit reihen sie sich in die von Hitler proklamierte Volksgemeinschaft ein. Das war die Grundlage der Ausgrenzungsgemeinschaft gegen Juden und andere Randgruppen wie z.B. Behinderte und Andersdenkende. vgl. Wildt 2019 Vielen Deutschen wurde das jedoch nicht bewußt.



Themenwagen beim Umzug am 1. Mai 1933 in Morsum.

Kriegsbeginn
Als der Krieg ausbrach, war unser Entsetzen groß. Viele Morsumer hatten Söhne, die eingezogen wurden. Nach 18 Tagen Krieg ist der erste Morsumer gefallen: Herbert Bossen ein Bruder der späteren Betreiberin der fränkischen Weinstube, starb in Polen. So jung. Dass er nicht wiederkommt, begreift man nicht richtig. Nur die Kriegsfrauen, die den Ersten Weltkrieg erlebt hatten, haben es sofort verstanden. – Herbert Bossen [*5.3.1915 +9.9.1939] wurde in der Nacht in Morsum geweckt, eingezogen und sofort an die Front geschickt. Seine Ahnung damals: wenn das ein Krieg wird, müssen wir den sehr sehr teuer bezahlen. Recht hat er ja gehabt. Die Arbeitskraft der Soldaten fehlte zu Hause. Das schaffte große Probleme. Gelegentlich halfen Leute vom Reichsarbeitsdienst, die ab 1936 in Morsum in sechs Baracken auf dem Gelände des heutigen
Campingplatzes wohnten. Vorrangig wurde der RAD aber zur Landgewinnung eingesetzt. Auch Nachbarschaftshilfe forderte man staatlich ein. Geholfen wurde, um gut dazustehen. Tante Emma sollte zum Beispiel ihr Reetdach gedeckt kriegen. Es fehlte aber der Bennentacker, der von drinnen die Nadel zurücksticht. Dafür kriegte sie einen Marinesoldaten als Helfer gestellt.

Gegen Kriegsende war ich zeitweise dienstverpflichtet in einer Munitionsfabrik in Lübeck-Schlutup. Wir arbeiteten zusammen mit Zwangsarbeiterinnen. Ich war im Laderaum für Infanterie-Patronen eingesetzt. Die Russinnen neben mir füllten die Patronen mit Pulver, wir überwachten die richtige Pulvermenge. Diese Frauen, etwa genauso alt wie wir, waren blass und ausgemergelt. Es bestand Kontaktverbot zwischen uns. Eine mit Namen Katharina legte mir einen Zettel hin auf dem stand: Wie lange heute Arbeit? Ich war ganz perplex über ihre Deutschkenntnisse und fragte sie danach. Unsere Sprache hatte sie in der Schule gelernt. Immerhin kamen wir ins Gespräch. Sie war aus Leningrad. Ich habe sie nicht wiedergesehen. Möglicherweise ist sie nach dem Krieg mit einem der Schiffe, die diese Menschen zurückbringen sollten, von Stalins Schergen versenkt worden. Stalin wollte diese Menschen nicht wieder zurück haben.

Nachkriegszeit
Als die Engländer nach Sylt kamen, war unsere Aufregung groß. Sind sie schon da? Nein. Auf einmal waren sie da. Man hörte sie schon von weitem. Wir konnten sie von der Schule aus sehen. Sie fuhren auf dem Terpstich durch Morsum direkt nach Westerland. Es hatte kurz vorher auf der Insel noch Überlegungen gegeben Sylt zu verteidigen. Für den Fall hatte man noch Verteidigungsgräben in der Heide auf Nösse ausgehoben. Ganz Deutschland war bereits eingenommen und die Sylter stellten sich diese Frage! Aber wir waren wohl durch das Dritte Reich so geprägt, dass derlei Gedanken entwickelt wurden. Mir haben die Engländer zunächst Angst gemacht. Es war der erste Kontakt mit dem ehemaligen Feind. Andererseits waren wir erleichtert, dass der Krieg vorbei war. Wir sollten alle eine weiße Fahne raushängen. Natürlich hat auch Lehrer Kruse eine weiße Fahne gehisst. Das nahmen manche im Dorf mit Genugtuung zur Kenntnis. Als ich Tage später die englische Fahne vor dem Westerländer Rathaus sah, war ich erneut beunruhigt. Ich kam mir vogelfrei vor, obwohl ich es objektiv nicht war.

Paul Kayser und Peter Matzen wurden von den Engländern abgeholt. Sie kamen nach Neuengamme bei Hamburg. Ich war gerade bei Peter, als es
passierte. Einer der Soldaten, die wohl auf uns aufpassen sollten, spielte in der Küche mit einer großen Kaffeemühle, drehte sie, roch kurz und guckte verächtlich. Wir hatten damals keinen guten Kaffee. Aber diese Arroganz des jungen Engländers hat mich geärgert. Mein Vater dachte, nun sei er auch dran. Das geschah aber erst ein halbes Jahr später. Meine Mutter musste aus dem Schulhaus raus und mit allen Möbeln zu Tante Emma. Ich durfte nicht mithelfen, musste arbeiten in Niebüll. Wie meine Mutter das geschafft hat, weiß ich bis heute nicht. Als mein Vater aus der Internierung zurückkam, kaufte er zwei Kühe und machte notgedrungen Landwirtschaft, denn das Lehrergehalt fiel auf unbestimmte Zeit aus bis er schließlich nach zwei Jahren wieder an die Schule zurück konnte. Gelegentlich holte er sich zu landwirtschaftlichen Fragen Rat bei den Bauern, die ihm bereitwillig halfen. Sie waren trotz der Vergangenheit nicht gehässig.

Neben den Kühen hatten wir noch ein paar Hühner und ein junges Schwein. Es stand im alten Schweinestall. Das hielten wir wie so wie viele andere Morsumer schwarz, denn das Schwein hätte abgeliefert werden müssen. Als ich eines Tages vom Einkaufen zurück nach Hause ging, bemerkte ich ein fremdes Fuhrwerk vor einem Nachbarhof. Ich bekam mit, dass die Viehzählung durchs Dorf geht. Sofort lief ich nach Hause und berichtete. Helle Aufregung nicht nur bei uns, denn die Nachricht verbreitete sich in Morsum wie ein Lauffeuer. Wohin mit dem Schwein? Mein Vater wollte es angeben, aufrecht wie er war. Meine Mutter, die die Familie ernähren musste und meine Tante waren dagegen. Schließlich steckte mein Vater das Schwein in einen Sack und versteckte es darin hinter dem Haus im hohen Reet. Wir hatten kein Schwein. Wovon sollten wir es auch füttern, argumentierten wir scheinheilig. So ging es im ganzen Dorf. Viele hatten so eine Geschichte. Irma Schröder hatte ihr Schwein im Keller versteckt. Sie saß in der Küche auf der Bodenklappe, die ein Teppich unter sich begrub und sponn ganz emsig Wolle. Sie musste viel schaffen an diesem Tag. Für die Viehzählung hatte sie keine Zeit und schickte die Zähler gleich weiter in die Stube zu ihrer Mutter. Grete hat nur das unvermeidliche zugegeben. Bei Helmut Lohse wurden die Schweine auf dem Boden in einer Kornkiste versteckt. Als die Viehzähler den Hof verließen, hatten sich die Schweine selbstständig gemacht und guckten grunzend aus der offene Bodenluke im Giebel den Viehzählern hinterher. Sie haben es nicht bemerkt.

Nach dem Krieg wurden die Baracken des Arbeitsdienstes als Entlassungslager für Soldaten genutzt. Der Leiter war ein 22-jähriger Leutnant. Er hatte die Morsumer Mädchen zum Tanzen eingeladen, um seine Männer zu beschäftigen. Die hatten sich für diesen Tag ordentlich Mühe gegeben. Die Tische waren mit weißen Bettlaken als Tischdecken bedeckt, darauf standen Blechdosen als Vasen mit Blumen aus dem Graben. Musiker spielten, denn es gab einige Berufsmusiker unter den Soldaten. Die Stimmung war gut und ich verguckte mich in den Leutnant. Der mochte mich wohl auch. Wir tanzten wiederholt miteinander. Nach dem Ende der Veranstaltung brachte der Leutnant mich nach Hause. Es ging auf 22:00 Uhr zu und die Ausgangssperre würde in Kraft treten. Verstöße wurden mit Gefängnis geahndet. Wir wollten uns aber noch nicht trennen. So gingen wir zunächst auf den neben der Schule gelegenen Friedhof, wo wir uns küssten. Die Unsicherheit blieb, entdeckt zu werden und wir zogen weiter aufs daneben gelegene Kornfeld, wo die Hocken pyramidenförmig zum Trocknen aufgestellt waren. Innen hohl boten sie ein herrliches Versteck, in dem wir die Zeit bis zum Morgen genossen. Zu Hause vermisste ich meine Handtasche. Ich ging zurück auf den Friedhof und fand sie auf einem Grabstein liegend. Bald darauf wurde der Leutnant aus der Wehrmacht entlassen und verließ die Insel.

Jahrzehnte später während der Olympischen Spiele in Montreal las ich einen Bericht über den deutschen Medaillensieg im Flying Dutchman. Zwei Brüder gewannen. Deren Nachname kannte ich. Es war der meines Leutnants. Ich schrieb ihm nach Friedrichshafen am Bodensee und gratulierte zu seinen erfolgreichen Kindern. Er konnte sich noch ganz gut an mich erinnern und während eines Hamburg-Aufenthalts in seiner Rolle als Segelverbands-Funktionär trafen wir uns. Die Nacht war zu kurz, um alle unsere Gedanken auszutauschen.




Die Nordkirche berichtet auf ihrer Internetseite darüber, dass zwischen dem 20. April 1945 und 4. Mai 1945 im Morsumer Wäldchen drei Deserteure erschossen wurden.

Im Raum Westerland werden im selben Zeitraum 6 namentlich bekannte Soldaten hingerichtet.

Kornelia Piwek, geb. Baginska, geboren 15.4.1904, Polin bzw. Ukrainerin, Landarbeiterin, Einsatzort Morsum, wird am 16. Oktober 1943 tot in das Städtische Krankenhaus eingeliefert, Todesursache unbekannt. Bei wem hat sie gearbeitet?


Foto: Neuer Friedhof Sylt Westerland

Natalia K., Urenkelin von Kornelia Piwek, ergänzt diese Informationen im September 2021:"She lived with her husband Franciszek and their children in the Budki Kudrańskie colony, Ludwipol municipality, Kostopol district, Volyn province. This is now Ukraine. According to the old books and census which I have found, her husband Franciszek was murdered by Ukrainian nationalists during the massacre of Poles in 1943. From there, Kornelia and her other children were taken to Sylt. Her son (my great-grandfather) Władysław was then about 10 years old.  Kornelia worked with him on a farm owned by a man whose name was "Jendzyn", "Jentzen", "Jenzen" or similar. I don't know if it was a first or last name. Wladyslaw said that this was a very good man for him and his family.

I have a photo of my grandfather from that time, unfortunately the quality isn't good. I also have a photo of his older sister Anna, who worked on another farm (attached).




...You are right, the farmer could have been named Jensen. Unfortunately the rest of the facts do not match. Today I found out that the farmer had children. One of his sons was an adult at the time and he was a pilot. Maybe these facts will help determine the exact location of the farm.

Unfortunately, I don't know a lot of facts. I am looking for information on my own. Władysław died in 1998 and I haven't had a chance to talk with him. The only source of information is his wife, who is still alive."


Wladyslaw vor der ehemaligen Flugzeughalle von der Segelfliegerschule in Wennigstedt. Das Fahrzeug ist ein Mercedes Benz Typ 320 Cabriolet D und wurde zwischen 1937 und 1942 gebaut. Wer könnte der Halter dieses Fahrzeugs gewesen sein?



Für Zwangsarbeiter gab es auf Sylt mehrere Lager, u.a.
-in Westerland das Lager Steinmannstraße
-in Westerland die Baracke Lornsenstraße
-in Rantum das Lager Rantum - Nord


Wie kamen Zwangsarbeiter 1943 nach Deutschland?
Beispiel Tatjana Radiwilowskaja, 94. Die Süddeutsche (1.10.2021) schreibt: Als die Deutschen Kiew einnahmen, übernahm Bahlsen das Werk [für Trockenobst, in dem Tatjana arbeitete].Tatjana Radiwilowskaja ging morgens in die Arbeit und kam abends nicht mehr nach Hause. Es war der 14. März 1943. Sie wurde mit anderen Frauen mit dem Bus zum Lwowskaja Platz gefahren. Am nächsten Tag mussten sie mit der Straßenbahn zum Bahnhof, dort steckten sie die Besatzer in einen Güterwaggon und schickten sie nach Deutschland ins Bahlsen-Werk nach Hannover. Nicht einmal Zeit zum Packen hatte sie....Die lange Fahrt von Kiew nach Niedersachsen musste Radiwilowskaja auf dem Boden sitzen....In Hannover brachte man sie in eine Lagerbaracke.... "Es war insgesamt keine schwere Arbeit. Aber natürlich war es Zwangsarbeit."...Sie durfte in Hannover in den zwei Jahren nicht in ein Café gehen, auf der Straßenbahn während der Fahrt war ihr der Zutritt ins Innere verwehrt, sie musste außen auf der Plattform stehen mit dem weißen "OST"-Zeichen auf der Jacke, das sie als Zwangsarbeiterin auswies, als Rechtlose.




Kinderspiele nach der Kapitulation
Die Wehrmacht hatte auf Nösse Panzersperren und Schützengräben errichtet. Damit wollte man feindliche Soldaten abwehren, die versuchen über den Hindenburgdamm Sylt zu erobern. Die Engländer kamen tatsächlich mit Panzern über den Damm, stießen aber auf keine Gegenwehr. Die Verteidigungsanlagen auf Nösse blieben, die englischen Soldaten schienen sich dafür nicht zu interessieren.

So eroberten Morsumer Kinder das Gelände. In einem Schützengraben fanden sie ein Feldtelefon. Ein ca. sechsjähriger Junge hob aus Neugier den Hörer auf. Es meldete sich eine englische Stimme. Dem Englischen nicht mächtig, wollte er was sagen. Ihm fiel nur ein passendes Wort ein:"Iarshol!" Er glaubte das straflos sagen zu können, da er davon ausging, dass die Engländer kein Sölring verstehen. Leider wußte der junge Friese nicht, dass dieses Wort im Englischen sehr ähnlich klingt. "Asshole", so verstand es auch der Soldat. Die Kinder merkten das und verdrückten sich schnell. Sie konnten beobachten, dass kurz darauf 3 englische Soldaten auftauchten und nach den Übeltätern suchten. Sie blieben unentdeckt.

Noch heute können Bahnreisende die Überbleibsel der Panzersperre auf Nösse erkennen. Wenn Sie Sylt über den Damm erreichen, führt der Schienenstrang talähnlich durch den ausgebaggerten Morsumer Höhenrücken zum Bahnhof Morsum. Am Beginn dieses Abschnitts sehen Sie in geringer Entfernung von den Gleisen beidseitig eine Betonmauer quer zu den Schienen. Das ist der Rest der Panzersperre.

Besetzt wird Sylt von einigen Panzern des des "Inns of Court" Regiments (RAC) und des 58. Light Antiaircraft Regiment (RA), die zuvor schon den Kreis südtondern besetzt hatten. Kiebert, 76

Sylt im 2. Weltkrieg
Es gibt keinen Badebetrieb mehr. Kriegsverwundete werden auf der Insel in Lazaretten behandelt. Der Zugang zur Insel ist ab 1944 nur mit Reisegenehmigung des Landrats des Kreises Südtondern möglich. Der Zugverkehr wird dementsprechend stark eingeschränkt.

Die Wehrmacht rechnet mit einer Invasion von See. Deshalb werden an der Westküste Bunker, MG- und Geschützstellungen errichtet. Zur Sicherung des Hindenburgdamms gibt es Flakstellungen in Nösse und auf dem Festland. Nahe der Blockstelle Hindenburgdamm wird 1940 die 5. Reserve-Flakabteilung 461 stationiert. Der Damm gilt wegen des notwendigen Nachschubs als als kriegswichtig. Für evtl. Schäden durch Bombenangriffe werden schnell zu installierende Notbrückenmaterialien sowohl auf dem Festland als auch auf Sylt gelagert. Es gibt ab 1940 vereinzelte Fliegerangriffe auf den Damm. Auch ein Zug wird 1942 angegriffen, 1944 ein weiterer Personenzug aus Hamburg. Schäden werden nicht angerichtet. Kiebert, 74ff

Ich erinnere mich an die Reste eines Bunkers südlich des Eibenhofs in Tinnum. Er wurde durch die Engländer gesprengt. Meterdicke glatte Betonplatten lagen jedoch weiterhin in strahlender Sonne. Sie erwärmten sich im Sommer so stark, dass es für uns Kinder um 1960 viel Spaß machte, darauf barfuß zu laufen und uns zum Sonnen drauf zu legen. Einige Jahre später wurde der Stahlbeton entsorgt. Ekkehard Lauritzen




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Quellen:
Emma Scholz, Blick auf 100 Jahre Morsum, Band 2, Hamburg 1999

Frederick Taylor, Zwischen Krieg und Frieden, Berlin 2011

Bundesarchiv Berlin

Landesarchiv Schleswig-Holstein Abt. 460.17 Nr. 78. Im Text zitiert als Landesarchiv.


Sylter Zeitung, 6.März 1933, S 2


Sylter Zeitung , 13. März 1933, S. 3

Harald Voigt, Der Sylter Weg ins Dritte Reich, Nord friisk Instituut 1977

Wolfgang Kiebert, Der neue Weg -Zur Geschichte des Hindenburgdamms, Berlin 2017


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Wolfgang Kiebert, Der neue Weg - Zur Geschichte des Hindenburgdamms, Berlin 2017























































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